Schlagwort: Antisemitismus

Öffentliche Empörung

Am Beispiel des vor wenigen Tagen in einem Leipziger Hotel internationaler Couleur antisemitisch beleidigten Sängers lässt sich mMn exemplarisch Gruppendynamik in sozialen Medien darstellen:

Der Sänger nimmt abends ein Video auf, in dem er berichtet, dass ihm unmittelbar zuvor in einem Hotel aufgrund des tragens eines Davidsternes der Checkin verwehrt wurde. Er ist – verständlicherweise – emotional mitgenommen und wirkt für mich zu 100 Prozent glaubwürdig.

Dass er nicht sofort alle umstehenden befragt oder um Zeugnis gebeten hat, dass er nicht umgehend Strafanzeige gestellt hat – jede/r, der/die ihm das im Nachhinein vorwirft, sollte erst einmal in sich gehen, und sich selbst fragen, ob er/sie in so einer Situation schon einen exakten Plan gehabt hätte, was in welcher Reihenfolge zu tun sei. Als Aussenstehende/r kann man nämlich immer weise schwafeln …

Aber davon ab: das Video geht am nächsten Tag online und viral, ich bekomme es als erstes bei Twitter mit.
Die Solidarisierungswelle rollt an, die Empörungswelle noch mehr. Man verlangt Aufklärung, Stellungnahme und Konsequenzen vom Hotel.
Das rührt sich über mehrere Stunden nicht.
Die Menge macht Druck, die Google-Rezensionen rauschen aufgrund vieler 1-Stern Bewertungen mit Bezug auf Antisemitismus in den Keller. Die Worte, die manche, viele, dabei finden, sind schon sehr pauschal und in Bausch und Bogen aburteilend.
Das Hotel schreibt nachmittags eine erste Stellungnahme, u.a. dass man versuche, mit dem Sänger Kontakt aufzunehmen.
Das Management des Sängers schreibt: neee, Leute, heute nicht.
Die Facebook-Seite des Hotels wird gestürmt, und, ich weiss nicht mehr, ob am selben oder nächsten Tag, geht irgendwann offline.
Alle Medien berichten.
Das Hotel hat 2 Mitarbeiter beurlaubt.
Abends findet eine Soli-Kundgebung vor dem Hotel statt, Hotelmitarbeiter/-innen recyceln ein Plakat mit der jüdischen Flagge und dem türkischen Halbmond, werden dafür (mMn zu Recht) kritisiert. Auf dieses „Statement“ angesprochen, wenden sie sich ab und gehen zurück ins Hotel.
Ich persönlich bin mir noch unsicher, ob das Ausdruck von Hilflosigkeit, Nichtwissens, Angst um den Job (immerhin wird mancherorten gefordert, man möge nicht nur den Mitarbeiter, sondern am besten gleich das ganze Hotel in Schutt und Asche legen), von oben aufgezwungen oder nur grottenschlechte Unternehmenskommunikation ist.

Der Sänger ist immer noch nicht erreichbar, was einerseits sein gutes Recht ist, andererseits zu komischen Spekulationen führt, s.o.
Die Google-Bewertung des Hotels ist von gut auf „naja“ abgerutscht, obowhl man bereits angefangen hat, diese wieder löschen zu lassen.

Die ersten Relativierer tauchen auf, die ersten „warum hat keiner geholfen, hat er gelogen, will er Aufmerksamkeit, muss er was verkaufen“ und haste nicht gesehen böswilligen Annahmen sind dabei.

Am nächsten Tag steigert es sich von solchen Fragen, oder besser Unterstellungen, zu weiteren Schmähungen, man schweift mal schnell zu links und rechts ab, alle (anderen) sind schuld, am offensichtlichsten aber der Sänger selbst.
Ausserdem hat er nicht so reagiert, wie die meisten der „ich weiss sowieso alles besser“ Fraktion sich das gewünscht hätten.

Ein Mitarbeiter des Hotels dreht quasi den Spiess um und zeigt den Sänger wegen Verleumdung an. Ausserdem schickt er noch eine Anzeige wegen anonymer Bedrohung hinterher, der pöbelnde Mob hat anscheinend seine Identität ausfindig gemacht.

Inzwischen überwiegen bei Twitter die Kommentare, die lieber verbal auf den Sänger eindreschen, als auf das Hotel und seine(n) Mitarbeiter.

Die negativen Bewertungen bei Google für das Hotel sind vollständig eliminiert, plötzlich ist wieder alles Friede, Feuer, Eierkuchen.
Also auf den ersten Blick. Schaut man sich die verbliebenen, „echten“ Rezensionen an, ist in diesem Hotel beileibe nicht alles gold, was glänzt, und das Beschwerdemanagement oder der Umgang mit solcher Kritik, so – ich sag‘ mal – auf dem Niveau, hauptsache, wir haben „irgendwie“ reagiert, der Rest ist mir wumpe und bis nächste Woche sowieso alles vergessen.

Apropos vergessen, natürlich wurden bereits wieder neue Themen mit entsprechendem Empörungspotential rauf- und runtergespielt.

Mein Fazit:
– Solidarität im Nachhinein: oft für’n Arsch
– öffentliche Empörung der Masse: viel zu rigoros (à la Lynchmob), um sie ernst nehmen zu dürfen